Seit gut 27 Tagen habe ich nun kein Opium mehr angerührt. Wenn Pater Cillian nicht gewesen wäre, hätte mich sein Rausch wohl komplett verschlungen. Die Beweise für die Unaufrichtigkeit von Rose wogen, nach der Begegnung mit Grace, zu schwer für mich. Erneut wurde mein Vertrauen, das ich in einen Menschen setzte, zerstört. Doch nach dem heutigen Tag denke ich, ich verstehe Rose und weiß nun, welcher Weg einzuschlagen ist.

Mit Ende des 14. April versuchte ich einfach alles zu vergessen: meine Liebe zu Rose, das Gespräch mit Grace, Silvius und das Geheimnis der Insassinnen. Ich flüchtete mich in die süße Umarmung des Opiums. Seine dicken Rauchschwaden umgarnten mich wie die speckigen Arme einer alternden Hure, der ich mich bereitwillig hingab. Abend für Abend ging ich diese Liebschaft ein, und sie begann mich zu verändern. Ich wurde gleichgültig. Mehr und mehr wurde ich zu einem jener Wärter, die ich immer verachtet hatte. Die Geschehnisse XXXXXX XXXXdieser Tage fraßen mich auf, ich versuchte sie zu verdrängen, doch trieb dies mich weiter in den kräftigen Griff meiner berauschenden Mätresse. Bis zu dem Punkt, an dem mich meine Laster in den Dreck Londons zwangen. Und dank der Bastarde, die meine Wettschulden eintreiben wollten, war das wörtlich zu nehmen. Sie fanden mich, zugedröhnt bei Mrs Ts´ao, zerrten mich auf die Straße und prügelten die Scheiße aus mir raus. Doch anscheinend war die Zeit noch nicht gekommen, blutüberströmt in Londons Fäkalien zu verrecken.

Es war Pater Cillian der entschied, mich nicht liegen zu lassen. Er half mir auf die Beine. Er half mir, mich aus der zerstörerischen Liebkosung des Opiums zu lösen. Er zeigte mir einen anderen Weg. Bis dahin sah ich in der Beziehung zu Rose lediglich meine Chance, der Dunkelheit meiner Vergangenheit zu entfliehen, und vergas dabei vollkommen, Verständnis für die Situation von Rose zu entwickeln. Dies führte letztendlich dazu, dass ich nicht nur ihre Zuneigung anzweifelte, sondern auch meine Stellung in Newgate aufs Spiel setzte. Cillian gab mir nun etwas, was ich alleine nicht im Stande gewesen war zu finden: eine Perspektive. Er schenkte mir die Offenheit, Verständnis für die Handlungen anderer aufzubringen, selbst wenn ihre Motive für uns im Dunkeln liegen. Ich verstand immer mehr, dass gegenseitige Zugeständnisse nötig sind, um gemeinsam zu wachsen. Häufig erkennen wir dann in unserem tiefsten Innern, dass die Unterschiede, von denen wir dachten sie würden uns entzweien, am stärksten einen. In diesen Tagen wurde aus dem hilfsbereiten Pater, der aus reinster Nächstenliebe handelte, ein ehrlicher Freund, der in meinem bisherigen Leben gefehlt hatte. Dank ihm war ich bereit, wieder auf Rose zuzugehen und alles zu tun, was notwendig war, um die Wahrheit zu erfahren.

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Jedoch wurde meine Entschlossenheit an diesem Morgen in Newgate erneut auf die Probe gestellt. Ich hatte Frühdienst. Wie jeden Morgen führten wir die Insassinnen zum Gottesdienst. Eine meist sehr unübersichtliche Situation. Gleichzeitig drängten sich mehrere Insassinnen und eine überschaubare Zahl von Gefängniswärtern durch zwei Korridore, über eine Treppe hinauf in einen Gang zur Kapelle. Die Chance, die dieses Durcheinander mit sich brachte, konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich musste Rose treffen!

Also hielt ich mich in dem Gedränge dicht hinter ihr. Ich hatte nur wenige Minuten. Unauffällig griff ich ihre Hand und machte mich mit einem sanften Drücken bemerkbar. Rose neigte ihren Kopf zur Seite, sodass sich für einen kurzen Moment unsere Blicke trafen. Jedes Wort, das ich mir zurechtgelegt hatte, war wie ausradiert. Übrig blieb lediglich wirres Gestammel. Ich versuchte in wenigen Worten die vergangenen Geschehnisse zusammenzufassen und versicherte ihr, dass ich alles dafür tun würde, um sie in meinem Leben zu halten. Selbst wenn das hieße, dass sie als XXXXXXXXXXXXXGegenleistung mehr als nur meine Liebe erwarte.

Meine Worte hatte nicht die Wirkung, die ich mir erhofft hatte, geschweige denn die Reaktion, die ich in diesem Moment erwartete. Sie zog ihre Hand weg und herrschte mich in einem leisen aber scharfen Ton an. Noch bevor ich auf ihre Zurückweisung reagieren konnte, vergrößerte sie den Abstand zwischen uns, sodass eine weitere unauffällige Unterhaltung nicht mehr möglich war. Doch die wenigen folgenden Worte sollten mich bis zum heutigen Abend beschäftigen:

„Hinter diesen Mauern ist eines wichtig: Überleben! Hier drinnen herrschen eigene Gesetze, die mich zu Dingen zwingen, die ich in einem früheren Leben, mit einem freien Willen nicht getan hätte. Meine innersten Gefühle würde ich jedoch nie für einen dermaßen niederen Zweck wie Schmuggel prostituieren. Denkst du, ich bin wie dieses Miststück Grace? Ich dachte wahrlich, du würdest mich verstehen.“

Ihre letzten Worte waren begleitet von einem zutiefst enttäuschten Blick, der mit einem Schlag meine armselige Ratlosigkeit offenlegte. Eine Ratlosigkeit, die mich bis zu einer Unterhaltung im Bucket of Blood begleitete.

Auch wenn ich dem Opium abgeschworen habe, ein gutes Glas Gin geht noch immer, und das hatte ich nach dieser erneuten Begegnung mit Rose heute Morgen bitter nötig. Wie sonst auch, hatte ich direkt am Tresen, mit dem Rücken zur Tür, platzgenommen. Nach dem zweiten Glas Gin begann ich Dale, dem Barmann, mein Leid über die Situation mit Rose zu klagen. Zu Beginn verschwieg ich noch, dass es sich bei ihr um eine Insassin handelte. Ob es am kargen Publikum im Pub oder meinen geheimnisvollen Ausführungen lag wusste ich nicht, doch der sonst sehr wortkarge Dale schien sich tatsächlich für meine Geschichte zu interessieren. Also rückte ich nach und nach mit mehr Details über Newgate, Rose, die Insassinnen und das Geheimnis raus.

Meine Offenheit gegenüber Dale sollte sich an diesem Abend auszahlen. Denn die Präsenz eines Barmanns ist wohl mit der einer Brille vergleichbar: Die meiste Zeit nimmt man sie nicht wahr, doch ist sie stets zu Diensten, wenn es darum geht klarer zu sehen. Insofern könnte man behaupten, dass das, was man sieht, immer von zwei paar Augen gesehen wird. Und das wird häufig vergessen. So kam es, dass Dale bereits so manch ein Gespräch von ehemaligen Wärtern Newgates mitbekommen hatte. Gerüchte über kriminelle Zusammenschlüsse von Insassinnen innerhalb der Mauern. Gerüchte über eine Gruppe Frauen, die durch XXXXXXXXXXXXXXGewaltausübung andere Gefangene unterdrückten und gefügig machten. Gerüchte über ein dunkles Geheimnis, welches sie bewahrten. Gerüchte über einen Gin.

Ich konnte ihm im ersten Moment nicht glauben und dachte er spotte über mich, indem er sich Verschwörungstheorien ausdachte. Doch dann holte er ein Fläschchen unter dem Tresen hervor. Ein Fläschchen, das nahezu identisch mit dem war, welches Rose in der Galerie bei sich getragen hatte. Der Inhalt zerstreute meine letzten Zweifel: Es war der Gin aus Newgate. Dale erzählte mir, er habe sie dem gleichen Schmierlappen abgenommen, mit dem ich mich vor drei Monaten unterhalten hatte – Sylvius. Ziemlich betrunken hatte er vor Dale geprahlt, dass dies der beste Gin sei, den er je trinken würde. Auf die Frage woher er ihn hatte, hatte er nur geantwortet: „Eine Frau hier in London hat viele Geheimnisse, aber die Frauen in Newgate haben nur dieses eine.“

In diesem Moment erkannte ich, was Rose mit „Hier drinnen herrschen eigene Gesetze, die mich zu Dingen zwingen, …“ gemeint hatte. Denn wenn es weitere Belege für den Gin gab, dann entsprachen die Gerüchte über die Unterdrückung von Insassinnen ebenfalls der Wahrheit. Für Dale hat sich mit unserem heutigen Gespräch eine kaum fassbare Geschichte bewahrheitet. Ich hingegen habe endlich verstanden, was zu tun ist!

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