Ich habe mich auf der Suche verloren. Einer Suche nach Anerkennung und Aufstieg. Einer Suche, der ich mein bisheriges Leben gewidmet habe. Ich versuchte Offizier zu sein, war jedoch nur ein Bauer, dessen Züge lediglich darauf abzielten, des Königs Anerkennung zu erhalten. Doch standen die Felder dieses Spiels nie zu meinen Gunsten; sie wurden wieder und wieder nach Belieben der Obrigkeit geändert. So dachte ich, es gälte die Insassinnen zu schlagen, um Rose als meine Königin zu schützen. Nun musste ich feststellen, dass selbst meine Gegenspielerinnen nur Figuren der gleichen falschen Partie sind. Erst Rose vermochte es, mir die Illusion eines gerechten Spielfelds zu nehmen.

Nach dem Aufeinandertreffen mit Caitlyn setzte ich alles daran, ungestört mit Rose reden zu können. Ich musste sie vor diesem primitiven Weib warnen und ihr von meinem Plan, die Gemeinschaft mithilfe des Gefängnisdirektors zu zerschlagen, erzählen. Heute Morgen, zwei Tage nach meinem Besuch in der Dunkelzelle, tat sich während des Geleitdienstes die passende Gelegenheit auf. In mir herrschte ein Gefühl von Chaos. Da war die Angst um Rose sowie die Furcht davor, dass meine Beweise nicht ausreichen würden, um die gewalttätigen Strukturen der Insassinnen zu beseitigen. Doch ich war der festen Überzeugung, dass meine Anstrengungen vom Direktor belohnt werden müssten. Ebenso verspürte ich bei dem Gedanken, dass es schon bald kein Geheimnis um einen Gin mehr geben würde, eine befreiende Erleichterung. Rose erhielt mit der Zerstörung der Gemeinschaft der Insassinnen endlich wieder ihren eigenen Willen zurück. Und so gab es nichts mehr was zwischen ihr und mir stand.

Ich erzählte ihr jede Kleinigkeit. Angefangen bei Sylvius’ Deal mit Grace bis hin zu den Gebetsbüchern in der Kapelle. Ich hoffte insgeheim, Rose fiele mir um den Hals, weil ich es geschafft hatte, die Machenschaften der Gemeinschaft aufzudecken. Doch das tat sie nicht. Vielmehr schien es, als gäbe ihr Körper einer imaginären Last nach, die er seit geraumer Zeit gestemmt hatte. Ihre Schultern wurden schlaf, ihre Gesichtszüge ermatteten und dennoch war ihr Blick liebevoller denn je. Diesmal war es ihre Hand, die meine ergriff. Mit den folgenden Worten begann sie in sanfter, ja fast versöhnlicher Stimme ihre Geschichte zu erzählen. »Bitte höre meine Worte an und urteile nicht vorzeitig über mich. So findest du vielleicht auch noch zu deinen letzten Fragen eine Antwort.«

Gefasst bestätigte Rose meine Erkenntnisse, die ich während meiner Nachforschungen in den letzten Monaten gesammelt hatte. Lediglich in einem Punkt widersprach sie mir. Sie war kein Opfer. Sie musste nicht vor der Gemeinschaft um den Gin geschützt werden, denn sie war selbst Teil von ihr.

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Im Vergleich zu den anderen Insassinnen der Gemeinschaft war Rose noch nicht lange in Newgate inhaftiert. Eines hatten ihre Inhaftierungen jedoch gemein: die trostlose Gewissheit der Endgültigkeit. So merkte Rose schnell, dass die Gemeinschaft und der Gin ihre einzige Chance waren, Newgate wenigstens im Geiste zu entkommen. Jede der Insassinnen brachte durch ihr vorheriges Leben eine besondere Fähigkeit mit, welche sie in den Dienst des Geheimnisses stellte. Die unterschiedlichen Schicksalsschläge, die jede der Frauen erlitten hatte, waren jedoch immer wieder Grund für Zwietracht. Rose ordnete ihr eigenes tragisches Schicksal unter und schaffte es durch Verständnis und Mitgefühl die Insassinnen zu einen, sodass jede durch ihre persönliche Profession die Gemeinschaft und das Geheimnis rund um den Gin stärkte. Lediglich Grace missfiel die Rolle von Rose, wodurch sich im Oktober letzten Jahres ein Streit entwickelt hatte, der nachhaltig die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft belastete. Während dieses Streits griff Grace Rose an und das Nächste, an das Rose sich erinnern konnte, war meine zärtliche Berührung als sich unsere Wege in der großen Galerie kreuzten.

Sie fuhr fort und Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie genoss meine Besuche auf der Krankenstation, fand in unseren gemeinsamen Gesprächen Halt und spürte nach kurzer Zeit eine innige Zuneigung. Sie sah, welche Risiken ich einging, um sie zu sehen. Sie merkte wie wir beide uns Hals über Kopf verliebt hatten und wie aussichtslos diese Beziehung doch war. Sie, eine wegen Mordes an der eigenen Schwester verurteilte Frau, und ich, ein Wärter, ein Unmensch, der Feind in den Augen der Insassinnen. Die Hoffnung, ihrem Schicksal in diesen Mauern entfliehen zu können, hatte sie mit ihrer Verurteilung aufgegeben. Eine Verurteilung, die eigentlich den wahren Mörder ihrer Schwester hätte treffen sollen. Doch Macht, Wohlstand und Status wogen bei ihrem Urteil schwerer als Unschuld, Beweise oder gar Zeugenaussagen. Die Zugehörigkeit zur XXXXXXXXXObrigkeit XXXXXXXLondons verschaffte dem eigentlichen Mörder so etwas wie Immunität und brachte Rose unschuldig hinter die Mauern Newgates. In den Augen von Rose war Newgate lediglich ein Werkzeug mächtiger Männer, um ihre Schandtaten zu begraben, die sonst ihre doch ach so reinen Westen beschmutzen würden.

Ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht glauben. Es durfte einfach nicht sein, dass ich ein bloßer Lakai der Gruppe von Mensch war, die bereits in der Vergangenheit auf mich gespukt hatten. Rose sah mir meine Zweifel an, dennoch verurteilte sie mich nicht. Vielmehr brachte sie Verständnis für meine Ungläubigkeit auf und stellte lediglich eine Frage: »Wenn meine Verurteilung wie auch die von anderen Frauen rechtmäßig gefällt wurde, wieso wurden diese Urteile dann niemals vollstreckt?«

Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Umso mehr verblüffte mich ihre Erklärung: Hinrichtungen waren in London ein beliebtes Ereignis. Hinrichtungen von weiblichen Gefangenen hingegen ein öffentliches Spektakel. Die Frauen erhielten somit eine Aufmerksamkeit, die genau das Gegenteil von dem war, was angesehene Männer mit schmutzigen Geheimnissen wollten. Abseits des Spektakels sind der Öffentlichkeit die Insassinnen dieser Mauern jedoch scheiß egal. Die Einzige, die das Leid der Frauen kümmerte, war die Quäkerin Elizabeth Fry. Doch selbst ihre Versuche die Haftbedingungen der Insassinnen zu verbessern, waren vergeblich. Ihre Reden schienen von der Jauche in den Straßen Londons genauso verschluckt wie die Schreie der Slumkinder. So konnte Fry nichts weiter tun als mithilfe der Bibel Trost zu spenden. Den Insassinnen des Zellentrakts 31-69b blieb also lediglich die Gemeinschaft und der Gin, welcher ihnen half, die Tristes dieser Mauern zu überstehen.

Rose beendete ihre Schilderung mit wenigen Worten: »Liebster! Vergiss das Geheimnis, vergiss was du über den Gin weißt und vor allem vergiss mich. Dies kann kein gutes Ende nehmen. Also stürze dich nicht weiter für mich ins Verderben.« Sie umschlang meinen Hals und gab mir einen festen Kuss. Doch diese Nähe trug nicht die Hoffnung und Dankbarkeit, die ich mir zu Beginn unserer Begegnung ersehnt hatte. Ich spürte, wie ihre zarten Nasenflügel bebten und vernahm den leicht salzigen Geschmack ihrer Tränen. Rose löste sich jedoch wieder von mir und verließ, noch bevor ich etwas sagen konnte, den versteckten Winkel, in den wir uns gedrückt hatten. Wir waren also wieder im einsehbaren Durchgang in Richtung der Küche, sodass ich keine Gelegenheit mehr hatte, ungestört mit ihr zu reden.

Als ich am heutigen Tag den Fuß über die Torschwelle von Newgate auf die Straßen Londons setzte, verspürte ich das erste Mal ein Gefühl von Angst und Unsicherheit. Ich war mir nicht mehr sicher, ob die Welt, in die ich mich nun begab, nicht doch von weitaus gefährlicheren Menschen kontrolliert wurde als denen, die hinter den Mauern Newgates ihr Dasein fristeten. Menschen, die durch einen Schicksalsschlag, die Ausweglosigkeit ihrer Situation oder den reinen Kampf ums Überleben zu grausamen Taten gezwungen worden waren.

Nein, ich bin mir sicher: die Mächtigen da draußen sind es, die die wahre Bedrohung darstellen. Status und Macht stehen für sie an erster Stelle, Liebe oder Menschlichkeit haben für sie keine Bedeutung. Es sind Kreaturen der XXXXXXXXXXOberklasse, wie der Vater meiner ehemaligen Verlobten, dessen Handeln angetrieben wird von Habgier und Verachtung. Eine Habgier, die über die Schwächeren dieser Stadt hinwegfegt und nichts als zertrümmerte Seelen hinterlässt. Sie schaffen sich ihre eigene elitäre Welt, erbaut auf eben diesen Trümmern, und strafen diejenigen mit Verachtung, denen sie alles genommen haben. Jetzt, Jahre nach meiner Entlassung aus der Royal Navy, erkenne ich, dass mein Aufstieg in die Oberklasse weder ein Sieg noch ein ehrbarer Weg gewesen wäre. Wäre es doch eher einem Kniefall vor den mächtigen Männern dieses korrupten Systems gleichgekommen, bei dem ich ihnen zum Dank noch den Schwanz gelutscht hätte.

Nein. Cillian zeigte mir, dass Liebe die einzige wahrhaftige Perspektive in unserem Leben ist. Und auch wenn die Beziehung zu Rose lediglich ins Verderben führen kann, so ist sie für mich die letzte Chance auf Hoffnung und ehrliche Erfüllung.

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