Dieser schmierige Sohn eines Bastards! Dachte ich am gestrigen Abend noch, dass das Loch, in welches mich der Gefängnisdirektor gestoßen hatte, nicht tiefer sein könnte, so musste ich am heutigen Abend feststellen, dass Sylvius bereits daran arbeitete, es über meinem Kopf zuzuschütten.

Ich betrat das Bucket of Blood und hielt inne: die alten Eichendielen, das dumpfe warme Licht, die alkoholgelöste Stimmung und gelegentlich ein Faustkampf. War der Pub sonst ein Ort, an dem ich abschalten und mich amüsieren konnte, so wirkte er heute verändert – die Einrichtung schmierig, die Sicht schummrig und die Säufer missmutig. Gleichwohl ich es besser wusste, machte ich einen Mann an der Bar dafür verantwortlich: Franz Sylvius.  Ich stand eine Weile im Türrahmen und musterte die hagere Gestalt, die auf einem der Barhocker saß. Trotz der wenigen Jahre, die uns trennten, blitzte mir bereits Sylvius bleiche Kopfhaut entgegen. Gemeinsam mit den verbleibenden vor Pomade triefenden Haaren, mit denen er vergeblich versuchte, die großen Lücken am Hinterkopf zu überdecken, war es ein überaus erbärmliches Bild, welches er von Hinten bot –  ähnlich der letzten schmierigen Blutegel auf einer ausgeblichenen Wasserleiche am Ufer der Themse.

»Schön, dass Sie es einrichten konnten, mein Freund. Wo Sie doch in letzter Zeit so beschäftigt sind.« Sylvius hatte sich umgedreht und sein breites Lächeln begrüßte mich hämisch. Auf Dales Gesicht zeichnete sich sichtlich Verwunderung ab, als ich neben Sylvius Platz nahm. Er schien jedoch selbst zu merken, dass seine Gesichtszüge von seinem üblichen stoischen Ausdruck abwichen. Schnell deutete er uns mit dem vertrauten gleichgültigen Kopfnicken an, dass er bereit war unsere Bestellung aufzunehmen. Sylvius bestellte zwei Gin. Wir griffen gleichzeitig zu unseren Gläsern. Er hob seines zum Toast, woraufhin ich meines direkt leerte. Ich bestellte ein neues, während er lediglich einen kleinen Schluck nahm.

»Nun, mein Lieber, wo soll ich beginnen?«. Sylvius wartete nicht auf meine Reaktion, er begann einfach am Anfang; ganz am Anfang. Bei seinem Großvater, seinem Vater und seiner Mutter.

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Seine Mutter, eine Frau, die ihn für den schrecklichsten Fehler ihres Lebens hielt, ihn als Kind mit einem Seil ans Bett band oder mit ihren Schuhen schlug, wenn er wieder einmal unartig war. Er strengte sich an, wurde Arzt und bekam die Stelle in Newgate. Doch Mutti sah in ihm weiterhin den Schandfleck der Familie. Einer Familie von bedeutenden Ärzten und Brennern, und ohne deren Reputation Sylvius, nach Einschätzungen seiner Mutter, nie so weit gekommen wäre. Sylvius hasste seine Mutter. Sie hob seinen Vater sowie Großvater auf ein Podest, welches in seinen Augen nicht mehr existierte, waren doch die goldenen Zeiten der Familie längst vorüber. Er hatte sich geschworen: Eines Tages würde er sie übertrumpfen, sie von ihrem Podest und gleich darauf seine Mutter in die Gossen Londons stoßen.

Ein Plan, der mit der Einlieferung Caitlyns auf die Krankenstation Gestalt annahm. War sie es, die Sylvius auf die Spuren des Geheimnisses der Insassinnen und somit auf den Gin brachte. Einen Gin, der in der feinen Gesellschaft Londons einschlagen würde. Einen Gin, der seinen Namen – Franz Sylvius – weit über London hinaus bekannt machen und die Namen seiner Vorfahren verblassen lassen würde. Er brauchte lediglich das Rezept des Gins. Doch all seine Versuche, mithilfe von Gefälligkeiten, über Grace oder sonst irgendwie an das vollständige Rezept heranzukommen, scheiterten. Es war fast eine rührselige Geschichte, die er mir da erzählte, wäre er nicht zu dem Punkt gekommen, an dem ich selbst ein Teil von ihr wurde.

Anfangs hielt er mich für einen einfältigen Wärter, der bei Rose auf der Suche nach Befriedigung war. Dieses Bild begann jedoch in dem Moment unstimmig zu werden, als ich mich nach der eingelieferten Insassin erkundigte. Musste er wenige Tage nach meinem Besuch auch noch feststellen, dass seine Krankenakten durchsucht worden waren, schürte das weiter seinen Verdacht und er fing an, mir nachzustellen.

Er wusste nicht alles, aber er wusste genug. Genug, um zu wissen, dass ich mehr über das Geheimnis herausgefunden hatte, als er imstande gewesen war. Genug, um zu erkennen, dass ich Rose liebte. Genug, um zu verstehen, dass der Direktor Rose gegen mich benutzte, um an die belastenden Unterlagen heranzukommen. Unterlagen, die nun in den Händen dieses Hundesohns lagen. Was er mir damit bewies, dass er mir die Akte von Evie mitgebracht hatte. Geschickt von diesem Bastard! Jetzt, wo ihr gespaltener Schädel in irgendeiner dunklen Ecke Newgates von den Ratten angefressen wurde, war ihre Akte wohl das entbehrlichste Dokument aus dem Bündel, welches ich aus dem Büro des Direktors entwendet hatte.

Ich konnte es nicht fassen. War es tatsächlich Franz Sylvius, der am Ende darüber entschied, ob Rose elendig verreckte und ich für Evis Tod vor Gericht gestellt wurde? Seine Forderung war einfach, aber doch nahezu unlösbar: Er wollte das Rezept der Insassinnen!

Das Rezept hatte ich selbst nie herausfinden können. Ich wusste alles über ihren Schmuggel, ihre Produktionsstätte, welche Kräuter sie zum Teil verwendeten und wie die Verteilung ablief, aber nicht, was diesen verfluchten Gin eigentlich ausmachte. Sylvius war das egal, hatte ich doch bereits soviel herausgefunden, da sollte diese Kleinigkeit wirklich kein Problem mehr sein. Er bestellte bei Dale noch einen Gin, stellte ihn vor mir ab und verließ mich mit den Worten:

»Ich frage Sie, wieso haben wir Geheimnisse? Nicht etwa, weil wir etwas verbergen möchten. Nein. Im tiefsten Innern suchen wir jemanden, der würdig ist, die Bürde des Geheimnisses mit uns zu tragen. Also zeigen Sie sich würdig, mein Freund!«

Würde. Wie konnte ich Würde empfinden, wenn ich ein Geheimnis enthüllte, welches anderen ermöglichte, die Hölle auf Erden zu überstehen. Sobald Sylvius das Rezept in den Händen hielt, würde er alles dafür tun, um die Zeugen seiner Herkunft zum Schweigen zu bringen. Mit der Übergabe des Rezepts würde ich die Bürde der Insassinnen nicht mittragen, ich würde die Last nur mehr erhöhen. Eine Last, die den Untergang der Gemeinschaft, der auch Rose angehörte, endgültig besiegeln würde.

Dies scheint also der Preis des Rezepts. Und es ist der Preis, den es zu zahlen gilt, um an die Akten des Direktors zu gelangen, das Leben von Rose zu retten und meine Verurteilung zu verhindern. Doch ist die Höhe dieses Tributs gerechtfertigt?

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