Tok… Tok… Tok… ich schließe die Augen. Noch immer höre ich die Bewegung der Figuren auf dem hölzernen Spielbrett. Erbarmungslos verstärken sie das unerträgliche Dröhnen in meinem Kopf. Ich fasse an die krustige Stelle an meinem Hinterkopf, ein Stechen durchzieht meinen gesamten Körper und ich sehe erneut die verschwommene Gestalt des Direktors vor meinem inneren Auge.

Die Unterlagen aus dem Eichenschrank des Direktors nutzten mir rein gar nichts solange ich nicht wusste, wie ich an die Reformerin Fry herankam. Es war fast unmöglich sie einfach auf der Straße anzusprechen, war sie doch eigentlich ein Teil der Oberklasse. Die einzig verbleibende Möglichkeit war also die Übergabe während einer ihrer Visiten in Newgate. Wenn ich sie jedoch persönlich ansprach, war die Gefahr zu groß, dass die Spur zu mir zurückführte. Es musste also durch eine Insassin geschehen. Rose konnte ich nicht in Gefahr bringen, gab es zu viele Verbindungen zwischen ihr, den Akten und mir selbst. Allerdings schaffte ich es auch nicht ohne sie, denn es bedurfte der Hilfe einer Insassin, der Rose vertraute und die keinerlei Verbindung zu mir besaß. Ich konnte nicht anders als sie in mein Vorhaben einzuweihen und um Hilfe zu bitten.

Die Wahl von Rose fiel auf Evie, sodass ich die Hebamme von Hertfordshire in meine Nachforschungen und meinen Plan der Übergabe einweihen musste. Ich plante das Treffen akribisch, wartete bis ich die passende Schicht erhielt und lies mich bis dahin nicht in der Nähe von Rose oder Evie blicken. Doch gerade als wir dachten, wir befänden uns in einem der unübersichtlichen Winkel bei den Fäkaleimern in der Zelle, stürmten mehrere Wärter auf uns zu. Das Letzte, was ich mitbekam, waren die harten Schlägel ihre Holzknüppel.

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Tok…, TOK…, TOK… Ein immer lauter werdendes Geräusch von aufeinanderschlagenden Holzteilen lies mich zu mir kommen. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er ein Weizenkorn zwischen zwei schweren Mahlsteinen. Völlig benommen öffnete ich meine Augen: Direkt vor meinem Gesicht verschob eine kräftige Männerhand hölzerne Schachfiguren. Erst einen Zug mit dem hellen … TOK … dann mit dem dunklen … TOK … Schlagartig wurde mir bewusst, wem die Hand, die soeben einen Bauern der hellen Fraktion umschloss, gehörte: dem Direktor!

»Sieh an, unser kleiner Sonnenschein ist aufgewacht!«, sagte er zu einem Wärter, der hinter dem Chesterfield-Sofa stand, auf dem ich lag. Der Direktor wartete kurz, bis der Wärter hinter mir sein dümmliches Gelächter beendet hatte und fuhr fort: »Wärter 21/07 – seit über drei Jahren ein zurückgezogener, stiller Außenseiter. Pünktlich, pflichtbewusst und strebsam. Sie sind einer, der sich an die Regeln hält und dann …« er machte eine Pause und zog mit dem hellen Bauern ein Feld in Richtung des dunklen Königs, »eine Liebesaffäre mit einer Insassin.«

Ich wollte aufstehen, wurde allerdings mit einem kräftigen Griff von hinten nach unten gedrückt. »Doch nicht alle Fehltritte haben immer gleich Konsequenzen.« Im gleichen Moment zog er mit einem dunklen Springer an dem hellen Bauern vorbei und platzierte diesen hinter diesem. »Oftmals wird solch eine Torheit durch simples Glück abgefangen. Das Problem dabei ist jedoch, dass dieses Glück häufig in kopflosen Übermut umschlägt.« Die Stimme des Direktors begann zu beben, während er den gleichen hellen Bauern näher an die dunkle Königin und den dunklen König rückte. »Und Übermut gehört bestraft!«

Sein schwarzer Läufer schlug den letzten verbleibenden Turm der hellen Fraktion, der durch das Vorrücken des Bauern ungeschützt blieb. Er nahm den Turm in die Hand, hielt ihn mir direkt unter die Nase und schrie: »Wissen Sie, wieso so etwas passiert? Weil so scheiß Bauern wie Sie denken, sie würden zu mehr taugen als bloße Opfer!« Voller Wut platze es aus mir heraus: »Wir werden noch sehen, wer hier am Ende das Opfer ist, wenn Ihr durch Manipulation und Intrige zusammen­gehaltenes Kartenhaus einstürzt!« Ein Ausbruch, den ich mittlerweile bereue, da ich mit dieser Aussage dem Direktor offenbarte, wieviel ich tatsächlich wusste und genau das schien der Direktor auch beabsichtigt zu haben. Er antwortete spöttisch: »Ein Opfer lastet bereits auf Ihren Schultern!« In diesem Moment gab ihm der Wärter hinter mir einen hölzernen Knüppel. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich ihn erkannte, war ich selbst es gewesen, der den üblichen Lederriemen am Griffende des Knüppels gegen ein dünnes Schiffstau getauscht hatte. Das Blut, welches die komplette obere Hälfte des Knüppels bedeckte, war hingegen frisch.

Der Direktor lies mir einige quälende Minuten der Ungewissheit, bis er mir von ihr erzählte. Sie war tot. Brutal mit meinem Knüppel niedergeschlagen. Doch das Schlimmste war: Evies Tod war lediglich ein Mittel zum Zweck. Sollte ich es auch nur in Erwägung ziehen, die Dokumente, welche ich aus seinem Schrank entwendet hatte, oder die Informationen, die darin enthalten waren, in irgendeiner Form weiterzugeben, würde Evies Tod mittels der Tatwaffe mir angehängt. Meine Glaubwürdigkeit wäre zerstört. Alles, was ich im Old Bailey als Verteidigung anführen würde, würde wie die verzweifelte Ausrede eines mit Krümeln übersäten Kindes an der Keksdose klingen.

Doch mit dieser Drohung hatte er seinen letzten Zug noch nicht beendet. Er wollte die Akten, Briefe und Dokumente, die ich gestohlen hatte. Und um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, bot er mir Rose. Vielmehr waren die Unterlagen der einzige Grund, wieso Rose oder ich noch lebten. Sollte ich jedoch sein Ultimatum von wenigen Tagen nicht einhalten, ließ er seine Männer so lange auf Rose los, bis sie gebrochen darum bettelte gehängt zu werden. Unser Gespräch beendete er wortlos mit einem weiteren Zug, der seinen dunklen Turm die helle Dame schlagen ließ, bevor mich der Schwachkopf, der die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, schroff rausschmiss.

Als ich Newgate verließ, wusste ich, dass ich diese Partie verloren hatte. Wie groß meine Niederlage in dieser Nacht tatsächlich war, erfuhr ich erst als ich die Princess STR erreichte. Die Türe war aufgebrochen, meine kompletten Habseligkeiten waren durchwühlt worden und das Versteck, indem die Unterlagen des Direktors liegen sollten, enthielt lediglich eine Nachricht:

»Darf ich Sie auf ein Glas Gin am morgigen Abend einladen, mein teurer Freund?«

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